"Das liebste Sparschwein der Nation"
Überlegungen zur Rekrutierung und Bindung von Mitarbeitern im Jobcenter aus externer Sicht
Nicht erst der Fall Ingrid Hannemann hat für Aufsehen gesorgt, die als "Wistleblowerin" die Rahmenbedingungen für Kunden und Mitarbeiter im Jobcenter Hamburg angeprangert hat. Die Medien sind derzeit voll von Meldungen über die schlechten Arbeitsbedingungen in den Jobcentern, und zwar auch und gerade im Bereich der Leistungsabteilungen. Die Bayerische Staatszeitung kürte den Leistungsbereich gar zum "liebsten Sparschwein der Nation". Aber mehr Personal für Verwaltungsarbeiten in den Jobcentern? Und das angesichts rückläufiger Arbeitslosen- und Leistungsempfängerzahlen? Das ruft berechtigterweise Misstrauen bei Politik und Steuerzahlern hervor. Was ist also dran an den Hiobsbotschaften über die schlechten Arbeitsbedingungen im Jobcenter?Aus der externen Sicht einer Fachberatung SGB II ist festzustellen: Die derzeit vieler Orten beklagte Überlastungssituation im Leistungsbereich der Jobcenter ist eine objektive Realität. Das hat verschiedene Gründe, von denen die einzelnen Jobcenter mehr oder weniger stark betroffen sind.
Der von der Bundesagentur für Arbeit empfohlene Betreuungsschlüssel von 1 : 130 ist nach wie vor hoch umstritten, und das unseres Erachtens zu Recht. In NRW empfehlen das zuständige Landesministerium gemeinsam mit die Regionaldirektion der BA mittlerweile einen Betreuungsschlüssel von 1 : 110. Dies dürfte einem Aufgaben angemessenen Fallzahlenschlüssel im Leistungsbereich nach unseren Erkenntnissen wesentlich näher kommen. con_sens beschäftigt sich seit 2006 mit - quantifizierten - Aufgabenanalysen im Leistungsbereich und verfügt über Erfahrungswerte zu mittleren Bearbeitungszeiten und Fallhäufigkeiten aus allen Bereichen der Leistungssachbearbeitung SGB II. Seit 2012 haben wir Organisationsuntersuchungen zur Personalbemessung im Leistungsbereich von Jobcentern durchgeführt, zuletzt bei einem großstädtischen Jobcenter. Die Ergebnisse zum angemessenen Betreuungsschlüssel liegen danach bei 1 : 100 - 110 Bedarfsgemeinschaften pro Mitarbeiterin Leistung - abhängig von der Organisationsstruktur.
Allerdings ist anzumerken, dass die Produktivität von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur sehr unvollkommen über Betreuungsschlüssel abzubilden ist. Es kommt ganz entscheidend auf die Rahmenbedingungen im Jobcenter an: Ist das Personal gut qualifiziert und eingearbeitet? Ist die Aufgabenverteilung stimmig, sind die Arbeitsprozesse reibungsfrei organisiert? Werden sie von den IT-Fachverfahren effektiv unterstützt? Und nicht zuletzt: Wie sieht es mit der Führungs- und Zusammenarbeitskultur und mit dem Arbeitsklima aus? Motivierte Mitarbeiter können selbst schlechte organisatorische Rahmenbedingungen ausgleichen – bei "innerer Kündigung" bringt auch die beste Organisation keine guten Arbeitsergebnisse hervor. Ein nützlicher Effekt von Organisationsuntersuchungen zur Personalbemessung, der einen hohem Erkenntnisgewinn verspricht, ist die detaillierte Aufgabenanalyse: Wer macht was wann und wie lange dauert das? Auf diese Weise geraten die Schwachstellen und "Zeitfresser" unweigerlich in´s Visier, und man gelangt schnell an die richtigen "Hebel" für Optimierungsmaßnahmen.
Typische Schwachstellen im Bereich der Leistungsgewährung sind aus unserer Erfahrung:
- Zugangssteuerung: Zu wenig Know-how am Beginn des Prozesses, keine echte "Auswegberatung", keine sofortigen Arbeitsangebote (Stichwort "Arbeit vor Transferleistung"), insgesamt zu lange Prozessdauern – Menschen erhalten über Wochen oder gar Monate Transferleistungen, weil ihre Selbsthilfemöglichkeiten nicht sofort geklärt und ggf. eingefordert werden!
- Keine gemeinsames Aufgabenverständnis von Leistung und Integration, kein Ziehen "an einem Strang". – Am wenigsten Arbeit machen Bedarfsgemeinschaften, die ihren Lebensunterhalt selbst sicher stellen können!
- Die Organisation der Arbeitsabläufe orientiert sich weniger an fachlichen Notwendigkeiten, sondern eher am vorhandenen Personal. Dies betrifft insbesondere die Teamstruktur in den gemeinsamen Einrichtungen als "Erbe" der "alten" Arbeitslosenhilfebearbeitung.
- Schlechtes Informations- und Wissensmanagement mit Informationsflut auf der einen Seite und langwierigen Suchen nach notwendigen Arbeitsgrundlagen wie Rechtsänderungen, Gerichtsurteilen, Leitfäden oder Anweisungen auf der anderen Seite.
- Führungskompetenzen und Führungskultur: Führung wird auf Organisation, Kontrolle und Zielerreichung reduziert und vernachlässigt die – ebenso wichtigen – Aspekte Motivation, Orientierung und Sinnstiftung.
Unzureichende Personalausstattung gepaart mit Organisationsdefiziten führt unweigerlich in einen Teufelskreis aus Arbeitsrückständen, Kundenbeschwerden und Notfallvorsprachen, welche die Überlastungssituation weiter verschärfen. Die Motivation sinkt, die Krankenstände steigen. Wenn sich in dieser Situation andere Möglichkeiten bieten, wandern die Mitarbeiterinnen ab. Nicht selten sind es die Leistungsträgerinnen, die "Goldfische" des Jobcenters. Personalfluktuation und die dadurch häufig bedingten Vakanzen verschlimmern für die verbliebenden Mitarbeiterinnen die Arbeitssituation – und die Abwärtsspirale dreht sich weiter. Zu Bedenken ist: Jede Mitarbeiterin die geht, nimmt wertvolles Know-how mit. Die Bindung des vorhandenen Personals ist daher eine der wichtigsten personalwirtschaftlichen Herausforderungen! Hier sind die Möglichkeiten der Jobcenter jedoch begrenzt. Und nicht selten mangelt es an der Unterstützung durch die Entscheider - die Träger (gE) bzw. die Kernverwaltung (zkT), auf die man für eine zielführende personalwirtschaftliche Strategie dringend angewiesen ist.
Aber die Überlastung ist nicht nur ein quantitatives Problem: Die Mitarbeiterinnen im Bereich Leistungsgewährung SGB II sind oftmals auch qualitativ nicht genügend auf die Aufgabe vorbereitet – und das betrifft nicht in erster Linie die fachliche Qualifikation als Verwaltungsfachfrau. Die Tätigkeit in der Leistungsgewährung SGB II weist im Vergleich zu "normalen" Verwaltungsjobs Besonderheiten auf, die vor allem mit den besonderen Anforderungen des Kundenkreises zu tun haben:
- die Bewältigung von schwierigen und konfliktreiche Gesprächssituationen, persönlichen Beleidigungen, Angriffen und Drohungen
- der Umgang mit Menschen mit Suchterkrankungen, psychischen Erkrankungen etc. Psychisch kranke Menschen sind häufiger von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen; sie konzentrieren sich folglich im Kundenkreis der Jobcenter.
- der Umgang mit Menschen, die einer anderen (Bildungs-)Schicht angehören und ggf. andere (fremde) Lebensziele verfolgen, Konfliktlösungsmechanismen leben etc.
- Die Notwendigkeit, die richtigen Prioritäten zu setzen und eine effektive Arbeitsorganisation zu finden.
- Die Notwendigkeit sich abzugrenzen (Nein sagen), professionell mit den Anforderungen des Berufs umzugehen ("Work-Life-Balance") und die Sorgen des Jobs nicht "mit nach Hause" zunehmen.
Gerade junge Mitarbeiter und Mitarbeiter oder Menschen, die gerne "helfen" sind hier erfahrungsgemäß besonders gefährdet. Hier braucht es intelligente Einarbeitungs- und Personalentwicklungskonzepte, die neben Recht und IT auch Stressbewältigung, Arbeitsorganisation, Gesprächsführung und Umgang mit Konflikten abdecken – und zwar nicht als freiwilliges "Add-on", sondern gleichberechtigt neben den fachlichen Themen! Und auch die Mitarbeiterinnen im Leistungsbereich benötigen regelmäßige Reflexion zu ihrem eigenen Rollen- und Beratungsverständnis sowie ihrem Kunden- und Menschenbild. Wenn der „Kunde" als Störung, als Gegner oder gar als Feind wahrgenommen wird, gegen den es sich zu schützen gilt, dann läuft etwas schief im Jobcenter!
Gottseidank ist eine solche Haltung nach unserer Erfahrung in den Jobcentern die Ausnahme. Im Gegenteil: Trotz hoher Anforderungen und anhaltender Belastungssituation haben die Mitarbeiterinnen im Bereich Leistung viel an Potenzial zu bieten: Hohe Motivation, Einsatzbereitschaft und Belastbarkeit. Die unzähligen rechtlichen und organisatorischen Veränderungen der letzten Jahre wurden ohne größere Störungen umgesetzt und beweisen eine beachtliche Flexibilität und Anpassungsbereitschaft. Wir treffen hier immer wieder auf Mitarbeiterinnen, die ihren Job wirklich gerne machen – trotz aller schlechter Rahmenbedingungen. Sie wollen etwas bewegen, etwas "Sinn-volles" machen, sie genießen die Vielfalt der Anforderungen und Lebenssachverhalte im Bereich der Leistungssachbearbeitung. Sie begegnen ihren Kunden freundlich, bestimmt und kompetent – weil sie gerne mit Menschen umgehen und sich bewusst sind: Dies sind Menschen, für die ICH etwas tun kann! Dieses Potenzial in den Jobcentern gilt es unbedingt zu erhalten!
Hierzu müssen die Rahmenbedingungen im Bereich Leistung dringend verbessert werden. Wir sehen in der Hauptsache drei strategische Ansatzpunkte:
- Aufgaben angemessenen Personalausstattung
- Optimierung der organisatorischen Rahmenbedingungen
- professionelle Personalentwicklung und Personalrekrutierung
Ziel des Personalmanagements muss es sein, die hohen Anforderungen des Aufgabenfeldes Leistungssachbearbeitung und die Fähigkeiten und Potenziale der Mitarbeiterinnen dauerhaft und systematisch miteinander abzugleichen und in Einklang zu bringen. Aktuell steht vor allem die fachliche Qualifikation im Vordergrund. Es geht aber auch um die Entwicklung von Soft Skills und professioneller Haltung, wenn die Mitarbeiterinnen im Bereich Leistung ihre Aufgaben dauerhaft mit Motivation und Arbeitsfreude angehen sollen. Dies darf auch kein freiwilliges "Add-on" sein, sondern ist integraler Bestandteil des Anforderungprofils.
Zu einer effizienten Rekrutierungsstrategie gehört letztlich auch die Imagearbeit des Jobcenters – und zwar nicht nur nach außen. Auch innerhalb einer Organisation, ob es nun die Agentur für Arbeit ist oder eine Kommune, gilt es, das Bild der Jobcenter grundlegend zu erneuern. Das fängt mit dem Image der im Leistungsbereich tätigen Mitarbeiterinnen an: Begriffe wie "Passivbereich" oder "Leistungsrechner" suggerieren, dass dort ein paar Zahlen zusammen gerechnet werden. Aber dort arbeiten hoch qualifizierte "Leistungsfachkräfte" mit einem Aufgabenspektrum, das dem der "Integrationsfachkräfte" in nichts nachsteht und mit hoher Verantwortung verbunden ist: Durch die Hände jeder einzelnen Leistungsfachkraft gehen pro Jahr etwa eine Million Euro an Transferleistungen!
Aber vielfach haben die Jobcenter immer noch ein "Schmuddelimage": Die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen sind deutlich höher als in anderen Bereichen der Verwaltung, die Aufstiegsmöglichkeiten sind begrenzt. Und: Man will nicht dort arbeiten, wo man mit "solchen Leuten" zu tun hat. Dabei handelt es sich um ein Arbeitsfeld, das so viel mehr zu bieten hat als trockene und abstrakte Verwaltungstätigkeit, nicht zuletzt durch den – im Vergleich zu anderen Verwaltungsbereichen – außergewöhnlichen Teamzusammenhalt. Der Leistungsbereich erfüllt letztlich eine enorm wichtige Aufgabe an der Basis des Sozialstaates: Die Sicherung des sozialen Friedens. Hier kann man etwas bewegen und findet sogar Raum für persönliche Entwicklung. Denn eines ist sicher: Hier tobt das pralle Leben!